Das ist die Lückenliste.

Ein Projekt von #breiterkanon

Aktuell: Rote Bücher an verschiedenen Stellen in den Beständen der Stabi in Berlin fordern „Zieh mich raus!“, „Öffne mich!“ und verlinken zu Texten der Lückenliste (April 2025)

Herzlich willkommen! Die Lückenliste ist eine Einladung, Texte zu entdecken, die es lohnt, zu lesen. Es sind Texte, die in der Schule, an Universitäten, in der Literaturgeschichte und auf Leselisten selten vorkommen – es sind Lücken im Kanon. Die kurzen Textvorstellungen stammen von Mitgliedern und Freund:innen des Netzwerks #breiterkanon. Sie geben Hinweise darauf, warum diese Texte lesenswert sind, aber auch dazu, warum sie „vergessen“ und verdrängt wurden.

Die Lückenliste ist unabgeschlossen und hat selbst Lücken – sie soll weiter wachsen. Ergänzungsvorschläge sind willkommen!

Vicki Baum (1888–1960): The Weeping Wood / Kautschuk. Roman in 15 Erzählungen

Es ist ein spannender Gattungshybrid aus Sachbuch und Zeitroman. Erzählt wird die Geschichte des Rohstoffs beginnend mit seiner Entdeckung und Herstellung im 18. Jahrhundert in Brasilien, über den Anfang der Plantagenwirtschaft in Ceylon und Sumatra bis zur Produktion des synthetisch hergestellten Kautschuks, das im Zweiten Weltkrieg zu einer unentbehrlichen, umkämpften Ressource wird. Die 15 Kapitel des Romans, die auch einzeln gelesen werden können, rücken unterschiedliche Akteure ins Zentrum, wobei Kolonialismus und Imperialismus aus einer individualisierten Perspektive behandelt und mit einer Kapitalismuskritik verbunden werden. Dabei wird mit einem deutschen Chemiker auch der Widerstand gegen das NS-Regime thematisiert. Mit diesem Roman aus dem US-amerikanischen Exil lernen wir eine politisch engagierte Autorin kennen. (Carola Hilmes)

Erscheinungsjahr: 1943 (US-amerikan. Original); 1945 (dt.); 2024 (Neuübersetzung; Wallstein Verl.)

Begriff: Episodenroman, Geschichte eines Rohstoffs, Kolonialismus- und Kapitalismuskritik

Irina Liebmann (* 1943): Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt

Liebmann rekonstruiert die wechselvolle Geschichte ihres Vaters Rudolf Herrnstadt (1903-1966), ein Journalist, der vor dem Nationalsozialismus nach Moskau flieht und im Mai 1945 mit der Roten Armee wieder in Berlin eintrifft, wo er die Presse der damals sog. Ostzone aufbaut, bis er 1953 bei der SED-Führung in Ungnade fällt. Ein beeindruckendes Vaterporträt, eine berührende Vater-Tochter-Beziehung und ein Stück DDR-Geschichte. (Carola Hilmes)

Erscheinungsjahr: 2008 (Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse)

Begriff: Autobiografie, Biografie, deutsche Geschichte (seit den 1920er Jahren), Geschichte der DDR

Charlotte von Stein (1742–1824): Dido

Das Prosadrama, entstanden 1794 und 1900 in Schölls „Goethes Briefe an Frau von Stein“ abgedruckt wurde als Schlüsseldrama gelesen, in dem Stein mit Goethe, repräsentiert in der Figur des Ogon, ‚abrechnet‘. Das Drama, welches sich auf Iustinus‘ Dido-Version bezieht, zeigt eine Herrscherin, die zum Wohle ihres Staates und um ihrem ermordeten Ehemann die Treue zu halten, zuerst in die Abgeschiedenheit flieht, dann aber zu ihrem Volk zurückkehrt und Selbstmord begeht. Das Drama verhandelt das Thema weibliche Herrschaft und lässt Dido an habgierigen und machthungrigen Männern scheitern. (Delf Lützen)

Erscheinungsjahr: 1794/1900

Begriff: Antikenrezeption, Drama, Gender, Politik, Tod, weibliche Macht, Weimarer Klassik

Semra Ertan (1957–1982): Mein Name ist Ausländer. Benim Adım Yabancı

Die posthum erschienene Sammlung umfasst Gedichte Semra Ertans – eine türkische Arbeitsmigrantin, die zu Lebzeiten nur wenige Texte veröffentlichte – sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch sowie weitere Dokumente (Briefe, Fotografien). Zentral sind u.a. Themen der Ausgrenzung und des Rassismus, aber auch der Identität, gegenseitigen aktivistischen Unterstützung und Freundschaft. Der Band, dessen Titel auf Ertans gleichnamiges, wohl berühmtestes Gedicht von 1981 verweist, stößt ein Nachdenken über Gleichberechtigung und den Prozess des Othering an. (Alexander Pappe)

Erscheinungsjahr: 1976–1982 (verfasst); 2020 (Erstpublikation)

Begriff: Aktivismus, Arbeitsmigrant*innen, Ausgrenzung, Freundschaft, gesellschaftliche Teilhabe, Gleichberechtigung, Identität, Liebe, Migration, Rassismus, Sichtbarkeit, Zugehörigkeit

Ronya Othmann (geb. 1973): Vierundsiebzig

In diesem Roman setzt sich Othmann mit dem 74. Genozid an der jesidischen Bevölkerung in Shingal auseinander, der im August 2014 vom sogenannten Islamischen Staat verübt wurde. Sie unternimmt Reisen zu den Tatorten, besucht Flüchtlingslager und Frontlinien, führt Gespräche mit Überlebenden und Angehörigen und verknüpft diese Eindrücke mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Dabei reflektiert sie über die Herausforderungen, für das Unaussprechliche Worte zu finden, und thematisiert die Grenzen der Sprache angesichts solcher Gräueltaten. (Dîlan Çakir)

Erscheinungsjahr: 2024

Begriff: Gegenwartsliteratur, Genozid, Gewalt, Reiseroman

Marianne Ehrmann (1755–1795): Amaliens Erholungsstunden. Teutschlands Töchtern geweiht.

Zeitschrift in vier Bänden mit breitem thematischem Spektrum und Genrevielfalt, in der sich Ehrmann der Unterhaltung und Bildung eines weiblichen Lesepublikums widmet. Dabei überschreitet Ehrmann Gendernormen des 18. Jahrhunderts, indem sie zeigt, dass auch eine Schriftstellerin „die Geißel der Satire“ schwingen kann. (Natalie Sauer)

Erscheinungsjahr: 1790

Begriff: Aufklärung, Frauen im 18. Jahrhundert, Satire, weibliche Bildung, Zeitschrift

Caroline Auguste Fischer (geb. Venturini, 1764–1842): Prinz Kanzedir

Das romantische Kunstmärchen erzählt von der Liebe des Prinzen Kanzedir für die vergebene Abenza. Besonders handlungslenkend ist hierbei die Fee Panagathe, die das Verhalten Kanzedirs als engstirnig offenbart. Das Werk thematisiert Schlaf und Traum als Quellen für Erkenntnis und Schaffenskraft, während es weiterhin etablierte Motive wie den Pygmalion-Mythos untergräbt. (Mathilda Herr)

Erscheinungsjahr: 1802

Begriff: Geschlechterrollen, Liebe, Märchen, Romantik

August von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772–1822): Emilie

Herzogin Emilie hat nach Jahren in Exil und Gefangenschaft ihr fürstliches Recht wiedererlangt. War bis dahin ihr einziger Halt die Korrespondenz mit ihrem Jugendfreund Xavier, muss sie nun feststellen, dass seine Zuneigung nicht ihrer Person, sondern nur seiner eigenen Fantasievorstellung von ihr galt. Der Roman hinterfragt die Humanität männlicher Wertvorstellungen und Weltentwürfe. (Vera Faßhauer)

Erscheinungsjahr: 1813–1821 (Manuskript; Digitalisat der Forschungsbibliothek Gotha)

Begriff: Briefroman, Geschlechterrollen, Manuskript, Romantik

Sophie Tieck (verh. u. gesch. Bernhardi, verh. von Knorring, 1775–1833): Julie Saint Albain

Polyperspektivischer Briefroman, der empfindsame Topoi unter romantischen Vorzeichen aktualisiert. Die Entwicklung der titelgebenden Zentralfigur – die von empfindsamer Tugendhaftigkeit zu ehebrecherischer Liebe und nach etlichen Verwicklungen zurück in die Ehe führt – erkundet ein neues Liebeskonzept, in dem die hohe Bedeutung des Gefühls nicht mehr an Tugendforderungen geknüpft, sondern psychologisch motiviert wird. Befragt werden in der Vorstellung ganz unterschiedlicher weiblicher Lebensentwürfe tradierte Auffassungen von Liebe, Ehe, Familie und Bildung. Formal interessant ist die Verknüpfung der Briefform mit auktorial erzählten und dialogischen Einschüben. (Luisa Banki)

Erscheinungsjahr: 1801 anonym; Neuedition 2011

Begriff: Briefroman, Ehe, Ehebruch, Empfindsamkeit, Liebe, Romantik

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