Über die Lückenliste

Die Lückenliste wurde von Mitgliedern des Netzwerks #breiterkanon gestartet und ging im September 2023 mit zur Zeit rund 120 Titeln online, sie ist unabgeschlossen und wird laufend erweitert.

Neben den Mitgliedern von #breiterkanon haben auch weitere Personen Empfehlungen beigesteuert, die sie aus der eigenen Forschung und Lektürepraxis sowie der eigenen Erfahrungen in der Welt kennen. Die Vielfalt der Perspektiven ist notwendig, um den Kanon zu verbreitern, die Initiative #breiterkanon und das Projekt Lückenliste laden daher zur Mitarbeit ein.

Die Lückenliste versteht sich als offene Ergänzung und Infragestellung von Kanones und Leselisten, wie sie publiziert, an Universitäten und Schulen eingesetzt und durch vielfältige Praktiken auf dem Buchmarkt (z.B. Edition), an den Schulen (z.B. Pflichtlektüren) und an den Universitäten (z.B. Lehrangebot und Lehrveranstaltungsplanung) reproduziert und weiter verengt werden.

Wir stehen in unserer eigenen Praxis und auch mit diesem Projekt nicht außerhalb dieser Prozesse, sondern haben an ihnen teil. Als Leseliste, die Leselisten infragestellt, ist die Liste nicht frei von Widersprüchen, bestimmt nicht objektiv und nicht perfekt – aber sie ermöglicht eine Diskussion von Praktiken der Kanonisierung und Marginalisierung.

Als Erweiterung des Kanons macht die Lückenliste auf nicht-kanonische Texte aufmerksam, deren Lektüre sich lohnt – nicht als Gegen-Kanon, sondern als offenes, notwendig unvollständiges Angebot zur Nutzung und Diskussion. In diesem Sinne ist sie eine Infragestellung von Kanones, aber auch unserer eigenen Praktiken und Positionen.

Die Lückenliste möchte zum einen ein pragmatisches, wirksames Arbeitsmittel sein. Zum anderen fragt sie, wie die Dynamiken und Institutionen von Kanonisierung und Ausschluss historisch und systematisch funktionierten und weiter wirken.

Die Einträge folgen Spielregeln, die die Mitwirkenden in einem offenen Diskussionsprozess erarbeitet haben. Sie zielen aber gerade nicht darauf ab, Kriterien für Kanonwürdigkeit zu entwickeln. Denn Wertungskriterien sind häufig ebenfalls Ergebnis jener Prozesse der Normierung und Kanonisierung, die zur Marginalisierung und De-Kanonisierung, zum ‚Vergessen‘ der nun ‚wiederzuentdeckenden‘ Texte führten. Vielmehr versuchen wir mit diesen Verfahrensregeln die Liste konsistent (im Sinne von nicht-beliebig) und ausbalanciert (im Sinne von divers) zu halten. An die Stelle eines normativen Literaturbegriffes mit vorgeblich objektiven Kriterien der Kanonwürdigkeit stellen wir vielfältige Gründe für Lücken und Begründungen für deren Füllung.

Die Spielregeln betreffen insbesondere den Umfang der Vorstellungen sowie die Regel, dass maximal drei Einträge pro Autor:in vorliegen sollten, die dann möglichst verschiedene Genres abdecken sollten und dabei auch essayistisches, journalistisches und philosophisches Schreiben sowie Formen wie Tagebücher und Briefe einschließt. Es finden sich sowohl Texte ‚vergessener‘ Autor:innen als auch marginalisierte Texte von Autor:innen, die mit anderen Werken im Kanon vertreten sind; Texte, die seit ihrer Entstehung marginalisiert waren stehen neben solchen, die erst im Zug (literatur-)historischer Prozesse verdrängt wurden. Die Liste hat einen Schwerpunkt in der deutschsprachigen Literatur, ist aber offen für andere Sprachen und Texte, die Mehrsprachigkeit spiegeln. Ausgangspunkt unserer Liste waren die Texte von Frauen, sie bildet aber auch andere Dimensionen von Marginalisierung und Mehrfachmarginalisierungen ab.

Viele der Texte, die wir empfehlen, entstanden im schmalen Raum zwischen Privilegierung und Marginalisierung: das Schreiben ermöglichend, die Kanonisierung verhindernd. Die Lückenliste hat also nicht nur selbst Lücken, sondern bildet ebenfalls Privilegierungen und Machtverhältnisse ab – sie steht nicht außerhalb der von ihr kritisierten Prozesse, sondern hat an diesen Teil.

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