Gründe & Begründungen

Hinter jeder unserer Empfehlungen steht eine Person mit Forschungsinteressen, Positionen und Einschätzungen dazu, warum der jeweils empfohlene Text auf der Lückenliste stehen sollte. Dazu gehören beispielsweise spezifische ästhetische und poetologische Eigenschaften der Texte, marginalisierte Thematiken und Pespektiven, die die Literaturlandschaft und die Lesenden bereichern (und die benötigt werden). In einigen Fällen ermöglichen die vorgestellten Texte eine neue Perspektivierung auf literaturhistorische Fragen, verbreitern die Vorstellung davon, was bestimmte Epochen, Gattungen oder Genres ausmacht, was typisch und möglich ist. In anderen Fällen zeigen sich die Texte als so typisch und exemplarisch, dass es sich nur durch textexterne Gründe erklären lässt, dass sie nicht als Standardbeispiele im Unterricht genutzt werden.

Die Lückenliste ist daher zum einen eine Liste begründeter Empfehlungen in Kurzform, die zur eigenen Lektüre einlädt. Zum anderen macht sie die strukturellen Gründe für und Prozesse hinter Marginalisierung und Kanonisierung deutlich: Sie zeigt nicht nur auf, welche Texte und Stimmen weniger gehört werden, sondern auch, wie ‚Vergessen‘, ‚Verdrängen‘ und ‚Wiederentdecken‘ funktionieren. Liest man die Lückenliste als Ganze, wird deutlich, dass die Lücken im Kanon gesellschaftliche Marginalisierungen abbilden, also Marginalisierungen in Hinblick auf Kategorien von Geschlecht, aber auch sozialem Status, Mehrsprachigkeit oder Religion. Die Lückenliste begann mit der Suche nach vergessenen Texten von Frauen*, ist aber offen und auf der Suche nach aus anderen Aspekten verdrängter Texte, insbesondere auch aus intersektioneller Perspektive.

Texte von PoC sind im Kanon (und auch noch auf der Lückenliste) unterrepräsentiert. Verfolgung, Exil und Flucht führen zum Vergessen vormals etablierter Autor:innen. Wer in bestimmten Gattungen und Genres schreibt, schreibt vom Rand des Literaturbetriebs – Lyrik, Kinderliteratur, Unterhaltungsliteratur sind Beispiele für diese Dynamik. Wer für die Bühne und nicht für Druckwerke schreibt, hat es schwerer, kanonisiert zu werden. Die Einträge auf der Lückenliste zeigen solche und viele weitere Gründe auf und machen deutlich, wie Fragen der Autor:innenschaft (das Schreiben unter eigenem oder fremdem Namen), der Publikationsmöglichkeiten sowie der Edition und der Forschungspolitik und -förderung gesellschaftliche Marginalisierungen nicht nur spiegeln, sondern verstärken und naturalisieren.

Gründe wie auch Begründungen sind in der Lückenliste jedoch aufgrund der Kürze der Form nur angedeutet. Daher haben Mitwirkende für eine Videoinstallation in der Ausstellung exemplarisch in jeweils drei bis fünf Minuten einen Text, Gründe und Begründungen dargestellt. Transkripte dieser Videos sind in der virtuellen Ausstellung zu finden.

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