Das ist die Lückenliste.

Ein Projekt von #breiterkanon

Aktuell: Rote Bücher an verschiedenen Stellen in den Beständen der Stabi in Berlin fordern „Zieh mich raus!“, „Öffne mich!“ und verlinken zu Texten der Lückenliste (April 2025)

Herzlich willkommen! Die Lückenliste ist eine Einladung, Texte zu entdecken, die es lohnt, zu lesen. Es sind Texte, die in der Schule, an Universitäten, in der Literaturgeschichte und auf Leselisten selten vorkommen – es sind Lücken im Kanon. Die kurzen Textvorstellungen stammen von Mitgliedern und Freund:innen des Netzwerks #breiterkanon. Sie geben Hinweise darauf, warum diese Texte lesenswert sind, aber auch dazu, warum sie „vergessen“ und verdrängt wurden.

Die Lückenliste ist unabgeschlossen und hat selbst Lücken – sie soll weiter wachsen. Ergänzungsvorschläge sind willkommen!

August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831): Clara du Plessis und Clairant: Eine Familiengeschichte französischer Emigrierten

Dieser Briefroman thematisiert die französische Emigration am Ende des 18. Jahrhunderts. Im Zentrum der Handlung steht die Liebesgeschichte zwischen Clara und Clairant, zwei Liebende, die durch die Revolution getrennt wurden. Die junge Adlige Clara, die mit ihrem Vater nach Koblenz flieht, vermittelt in ihren Briefen einen Einblick in das Leben französischer Emigrantenkreise im deutschsprachigen Raum, während Clairant die politischen und sozialen Konflikte in Frankreich aus seiner Perspektive schildert. (Larissa de Assumpҫão)

Erscheinungsjahr: 1794

Begriff: Briefroman, Emigration, Empfindsamkeit, Französische Revolution, Geschichte, Liebe

August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831): Leben und Thaten des Freiherrn Quinctius Heymeran von Flaming

Die Werke von August Lafontaine setzen sich intensiv mit Themen seiner Zeit – wie der Anthropologie und der Philosophie der Spätaufklärung – auseinander. Dieser Roman befasst sich mit wissenschaftlichem Rassismus anhand des Gegensatzes zwischen zwei Hauptfiguren: einem Baron, der – als Adept einer anthropologisch fundierten Rassenkunde – seine Theorie über die Überlegenheit bestimmter Rassen beweisen möchte, und einer jungen Frau abessinischer Herkunft und muslimischer Religion, die sich dieser Ansicht entgegenstellt und im Verlauf des Romans zunehmend an Bedeutung gewinnt. (Larissa de Assumpҫão)

Erscheinungsjahr: 1795–1796

Begriff: Erziehung, Rassismus, Satire, soziale Konflikte, Spätaufklärung, Wissenschaft

Irmgard Keun (1905–1982): D-Zug dritter Klasse

Der am wenigsten beachtete Exil-Roman Keuns lässt in einem Nachtzug sieben Figuren aufeinandertreffen und erzählt nacheinander deren sich kreuzende Lebenswege. Der Text reflektiert zentral Rollenbilder und -Klischees. Dargestellt werden die mit Weiblichkeit verbundenen Zwänge und Möglichkeiten, diesen durch Täuschung (Lügen, Finten) zu entkommen. Dem gegenüber steht die durch Alkohol verstärkte Gewalt toxischer Männlichkeit und deren fatale Folgen. Düstere Kulisse der Handlung ist die politische Realität in Nazi-Deutschland. (Sebastian Schönbeck)

Erscheinungsjahr: 1938

Begriff: Alkohol, Exil, Gewalt, Männlichkeit, Nationalsozialismus, Rollenbilder, Weiblichkeit

Ruth Rehmann (1922-2016): Illusionen

Dieser Büroroman ist auf vier Personen fokussiert: einen jungen Familienvater und vier Frauen unterschiedlichen Alters. Erzählt wird von ihren Erwartungen an das Leben, von Hoffnungen und Enttäuschungen. Die sechzigjährige Chefsekretärin wird für sie völlig überraschend gekündigt, was sie völlig aus der Bahn wirft, anders als ihre Erfahrungen aus dem Krieg. Geboten wird ein an Einzelschicksalen festgemachtes auf ein Wochenende konzentriertes kritisches Gesellschaftsporträt. (Carola Hilmes)

Erscheinungsjahr: 1959; Neuauflage 2022 (Aviva Verlag; Berlin)

Begriff: Alltagsgeschichte der 1950er Jahre, Angestelltenroman, Gesellschafts- und Geschlechterkritik, Gruppe 47

Elsbeth von Oye (um 1290−1340): Offenbarungen

Die „Offenbarungen“ der Dominikanerin Elsbeth von Oye sind als (selbst)zensiertes Autograph erhalten. Später wurde der Text für das „Ötenbacher Schwesternbuch“ bearbeitet. Im Mittelpunkt steht exorbitante Selbstkasteiung, die Gott der Mystikerin in Auditionen abverlangt und die sie mehrfach hinterfragt, ohne sich davon zu befreien. (Beatrice Trînca)

Begriff: (weibliche) Autorschaft, Dialog, Frauenmystik, Gott, Liebe, Mehrautorenschaft, Offenbarungsliteratur, Religion, Schmerz

Adelheid Reinbold (1800–1839): Irrwisch-Fritze. Idyll-Novelle

Von der Forschung als ‚erste deutschsprachige Dorfgeschichte‘ apostrophiert, verhandelt der im norddeutschen Bauernmilieu spielende Text die Liebe des armen Waisen Fritz und der Bauerstochter Lieschen, die gegen ihren Willen einen reichen Bäcker aus der Stadt heiraten soll. Lieschens Geschichte wird als Fortsetzung einer intergenerationellen Ohnmachtserfahrung gerahmt. Der emanzipatorisch-patriarchatskritische Plot ist angereichert mit phantastisch-magischen Figuren und Motiven, die dem niederdeutschen Volksglauben entstammen. (Jakob Christoph Heller)

Erscheinungsjahr: 1839

Begriff: Adoleszenz, Bauernmilieu, Dorfgeschichte, Geschlechterrollen, Gesellschaftskritik, kryptonyme Autorschaft, Liebe, Okkultismus, Patriarchat, phantastische Literatur, Vormärz/Biedermeier

Adelheid Reinbold (1800–1839): Die Gesellschaft auf dem Lande

Zyklus von vier Schauergeschichten (Emilie de Vergy, Die Kette, Der Doppelgänger, Bagatelle), die sich Vertreter:innen verschiedener Stände bei einem Landaufenthalt erzählen. Reinbold verhandelt in den Novellen Standeskonflikte und heteronormative Geschlechterverhältnissen, oftmals in intersektionaler Verschränkung. Patriarchale Gewalt in Partnerschaft und Ehe klingen in vielen der Novellen an oder sind sogar zentrales Thema. Die schauerliterarischen Motive figurieren – etwa in Die Kette – weibliche Rachephantasien. Die Rahmengespräche nutzt der Text für Verweise auf politische Konflikte des Vormärz. (Jakob Christoph Heller)

Erscheinungsjahr: 1836

Begriff: Ehe, Eifersucht, Emanzipation, Geschlechterrollen, Gesellschaftskritik, Gewalt, Kindsmord, kryptonyme Autorschaft, Liebe, Misogynie, Novellistik, Okkultismus, Romantikrezeption, Schauerliteratur, Sexualität, Vormärz/Biedermeier

Vicki Baum (1888–1960): The Weeping Wood / Kautschuk. Roman in 15 Erzählungen

Es ist ein spannender Gattungshybrid aus Sachbuch und Zeitroman. Erzählt wird die Geschichte des Rohstoffs beginnend mit seiner Entdeckung und Herstellung im 18. Jahrhundert in Brasilien, über den Anfang der Plantagenwirtschaft in Ceylon und Sumatra bis zur Produktion des synthetisch hergestellten Kautschuks, das im Zweiten Weltkrieg zu einer unentbehrlichen, umkämpften Ressource wird. Die 15 Kapitel des Romans, die auch einzeln gelesen werden können, rücken unterschiedliche Akteure ins Zentrum, wobei Kolonialismus und Imperialismus aus einer individualisierten Perspektive behandelt und mit einer Kapitalismuskritik verbunden werden. Dabei wird mit einem deutschen Chemiker auch der Widerstand gegen das NS-Regime thematisiert. Mit diesem Roman aus dem US-amerikanischen Exil lernen wir eine politisch engagierte Autorin kennen. (Carola Hilmes)

Erscheinungsjahr: 1943 (US-amerikan. Original); 1945 (dt.); 2024 (Neuübersetzung; Wallstein Verl.)

Begriff: Episodenroman, Geschichte eines Rohstoffs, Kolonialismus- und Kapitalismuskritik

Irina Liebmann (* 1943): Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt

Liebmann rekonstruiert die wechselvolle Geschichte ihres Vaters Rudolf Herrnstadt (1903-1966), ein Journalist, der vor dem Nationalsozialismus nach Moskau flieht und im Mai 1945 mit der Roten Armee wieder in Berlin eintrifft, wo er die Presse der damals sog. Ostzone aufbaut, bis er 1953 bei der SED-Führung in Ungnade fällt. Ein beeindruckendes Vaterporträt, eine berührende Vater-Tochter-Beziehung und ein Stück DDR-Geschichte. (Carola Hilmes)

Erscheinungsjahr: 2008 (Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse)

Begriff: Autobiografie, Biografie, deutsche Geschichte (seit den 1920er Jahren), Geschichte der DDR

Charlotte von Stein (1742–1824): Dido

Das Prosadrama, entstanden 1794 und 1900 in Schölls „Goethes Briefe an Frau von Stein“ abgedruckt wurde als Schlüsseldrama gelesen, in dem Stein mit Goethe, repräsentiert in der Figur des Ogon, ‚abrechnet‘. Das Drama, welches sich auf Iustinus‘ Dido-Version bezieht, zeigt eine Herrscherin, die zum Wohle ihres Staates und um ihrem ermordeten Ehemann die Treue zu halten, zuerst in die Abgeschiedenheit flieht, dann aber zu ihrem Volk zurückkehrt und Selbstmord begeht. Das Drama verhandelt das Thema weibliche Herrschaft und lässt Dido an habgierigen und machthungrigen Männern scheitern. (Delf Lützen)

Erscheinungsjahr: 1794/1900

Begriff: Antikenrezeption, Drama, Gender, Politik, Tod, weibliche Macht, Weimarer Klassik

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